Rostock - falls ein Rostocker den Hansetag in Emmerich 1567 besucht haben sollte...

Heyno Wilcken hatte sein Testament gemacht. Leichten Herzens diktierte er dem Notarius seinen
letzten Willen, denn es ging auf Tagfahrt, zum Hansetag nach Emmerich.
Viel hatte er nicht zu regeln. Wenn er starb, fiel sein Kontor an den ihm einzig verbliebenen Sohn,
den letzten der Familie Wilcken, innerhalb von Rostocks Mauern.
Heyno war gelassen. Was auch immer in Emmerich besprochen werden mochte, es würde nicht mehr wichtig für Rostock sein.
Er lehnte sich in seinen Stuhl, genoss die Wärme aus dem Kamin, hörte die darin allmählich verglühenden Holzscheite knistern.
Er war allein im Kontor, zu so später Stunde und es war ihm recht.
So konnte er seinen Gedanken nachhängen, ohne von irgendjemanden gestört zu werden.
Er mochte ohnehin nicht schlafen. Die Nacht verstrich auch so.
Heyno nahm eine Schreibfeder aus dem silbernen Halter, pinselte damit sein glattrasiertes Gesicht, hatte dann Muße, die Feder sorgfältig aufzurauen und zu
rupfen. Er setzte sein zerstörerisches Werk genussvoll fort.
Seine Familie war einst sehr stolz gewesen. Seine Ahnen stammten aus Lübeck, sie hatten sich vor zweihundert Jahren in Rostock niedergelassen, erweiterten ihren Einfluss im Osten, wurden reich und mächtig, in der Stadt am Krähenfluss. Seine Familie stellte mehrere Bürgermeister und Ratsherrn.
Ratsherr, das war er noch heute, aber die Zeiten waren anders, die schwere, goldene Amtskette auf seinem Fuchspelzkragen hatte nicht mehr denselben Wert.
Es gab eine Zeit, da war Rostock eine der einflussreichsten Hansestädte an der Küste des Mare Balticum, mit Münzrecht und eigener Gerichtsbarkeit.
Der Huldigungseid, der jedem neuen Landesherrn zu leisten war, geriet zur Formalie, die Stadt strebte nach der Reichsunmittelbarkeit - nur Gott und Kaiser untertan und den weiß-roten Hanseflögel am höchsten Mast aufgezogen.
Der Hohe Rat der Stadt Rostock war seit eh und je gespalten, in einen herzogtreuen Teil und in jenen, der mehr wagen wollte, das war die hansische Fraktion, zu stolz, um vor irgendeinem Territiorialfürsten das Haupt zu neigen, auch nicht vor dem Mecklenburger Herzogshaus.
Das Selbstbewusstsein der größten Stadt im Mecklenburger Land blieb bei Hofe nicht unbemerkt, stets gab es Quereleien, Machtgerangel und auch blutige Auseinandersetzungen. Die Mecklenburger Herzöge entschieden diese Konflikte immer für sich, nicht zuletzt, weil sich der Hohe Rat der Stadt durch seinen Dauerzwist selbst blockierte.
Vor zwei Jahren wagte es die Stadt wieder, verweigerte Herzog Johann Albrecht I. den Huldigungseid, was dem sauer kam.
Johann besetzte seine eigene Stadt und ließ die südliche Stadtmauer einschließlich des Steintores - eines der Haupttore Rostocks - einreißen, was schon Beleidigung genug war, aber er steigerte den Schmerz bis ins Unermessliche, indem er an jener Stelle eine Festung errichten ließ.
Die Feder pinselte über Heynos scharf gebogene Nase.
Johann hatte nicht umsonst einen Pfahl mitten in das Herz Rostocks getrieben.
Der Landesfürst prägte nun die Stadt und nicht mehr der Bürger selbst. Niemals würde es mehr so werden, wie es einmal war, selbst wenn Johann wieder etwas feinfühliger werden sollte.
Heyno ließ die Feder fallen. Die Hanse verlor in Rostock immer mehr an Bedeutung. Ein sicheres Indiz dafür war, dass sie einen Hinterbänkler wie ihn auf Tagfahrt schickten. Er kannte Emmerich nicht einmal, aber seine Neugier war durchaus geweckt.
Man nannte die Hansestadt am Rhein "Embrica decora", das prächtige Emmerich. Der Stern jener rheinischen Stadt mochte hoch gestiegen sein, der Rostocks begann dagegen unweigerlich zu sinken.

Grüße aus dem Norden
von Bea

mein Heyno könnte ein unparteiischer Beobachter des Geschehens sein. Oder durch Zufall oder einem ausgeprägten Hanf zur Vorteilsnahme an dem Komplott
gegen Deinen Kaufmann beteiligt sein. Oder Zeuge dessen werden und sich entscheiden müssen...
Dazu möchte ich aber gern die Beiträge der anderen abwarten. Ich freue mich sehr auf die Texte... Malen könnte ich vor allen oder nur für Rostock.
Das ist meine Heimatstadt, hier gibt es sogar einen Stadtplan mit der "Skyline" Rostocks aus dem 16. Jahrh. ...

Heyno dachte, dass es nicht schaden könnte, vor seiner Abreise nach Emmerich noch einmal zu beten. Er wandte sich gen St. Marien, der trutzigen Hauptkirche Rostocks, welche wie eine Festung über der Stadt hockte, mit ihrem kreuzförmigen Grundriss, seit sie vor ungefähr hundert Jahren um ein mächtiges Querschiff erweitert wurde.
Es gab viel schönere Kirchen in Rostock, vor allem St. Jacobi in der Nordstadt, welches an eine englische Kathedrale erinnerte und selbst die ärmeren Gemeinden von St. Petri und St. Nikolai hatten hübschere Gotteshäuser, zumindest von außen, aber St. Marien, das war seine Kirche und die seiner Vorfahren.
Wenn er sie betrat, dachte er an diese unselige Reformation, an diese nüchternen Lutheraner, denen jeglicher Luxus zuwider war. Vor der Reformation hatte es in St. Marien 38 Altäre gegeben, einen davon hatte einst sein Urgroßvater Christian Wilcken, reicher Nowgorod-Fahrer und Bürgermeister, gestiftet, einen Mühlenaltar, ein seltenes Stück aus einer renommierten Lübecker Werkstatt, auf dem die vier Evangelisten die Worte Gottes mittels einer Mühle in eine verständliche Form für die Menschen umwandelten. Die Darstellung war relativ selten, die Ausführung vorzüglich, die Schnitzereien exquisit, aber der protestantische Pöbel hatte diesen Altar neben anderen aus der Kirche entfernen lassen.
Wer wusste schon, wessen Haus das Holz des Altars gewärmt hatte.
Heyno fühlte bei dem Gedanken Bitterkeit. Der Protestantismus war für ihn ein wesentliches Infernal des Unterganges seiner einst so großen Stadt, welche in ihrer Blütezeit vor zirka 100 Jahren bis zu 14.000 Einwohner gezählt hatte und im Hansebund eine führende Rolle spielte.
Er hasste das Lutheranertum aus tiefstem Herzen, nicht nur, weil es asketische Kirchen bevorzugte, sich einfach kleidete und in der Sprache des Pöbels die Gottesdienste abhielt, sondern weil es Rostock und dem Land Mecklenburg von seinen Herzögen aufgezwungen wurde.
Sie hatten 1523 Joachim Slüter, den Sohn eines einfachen Fuhrmannes, als Kaplan der Petrikirche eingesetzt, der von dort sein lutheranisches Gift kontinuierlich in die Stadt rieseln ließ.
Er predigte in der Sprache des Volkes und die Menschen kamen, bald waren es dereinst so viele, dass dieser schwarzbärtige Teufel seine Predigten unter freien Himmel abhalten musste.
Der Protestantismus wucherte fortan wie eine Seuche und untergrub die Macht des Rates als auch die der Mutter Kirche und ihrer Klöster in der Stadt.
Jener Joachim Slüter verstarb unter mysteriösen Umständen im Jahre des Herrn 1532, man munkelte, dass er einem Giftmord zum Opfer gefallen war, bewiesen wurde das nie, kein Schuldiger gefunden und wenn es ihn denn gegeben hätte, dann würde er ihm heute noch für diese Tat dankbar sein und klingende Münze springen lassen.
Offen musste er sich protestantisch geben, weil der Rostocker Rat in vorauseilendem Gehorsam schon 1531 beschlossen hatte, Gottesdienste nach der neuen evangelischen Ordnung abzuhalten und Luthers Lehren zu predigen. Damit tat die Stadt ihren Landesherrn einen Gefallen, die sich zum Protestantismus bekannten, schließlich hatten sie einen großen Nutzen davon, konnten sie sich doch das Vermögen der aufzulösenden katholischen Klöster einverleiben. Da sagte einer noch, ein Kaufmann wäre bereits seit der Geburt ein Sünder, denn die Gier war sein Geschäft...
Sein Vater hing weiter störrisch am katholischen Glauben fest und das nicht nur, weil die Familie Wilcken enge Beziehungen zum Dominikanerkloster St. Johannis pflegte und immer ein Wilcken dort seinen Dienst am Herrn tat, katholisch zu bleiben hieß auch sich dem Landesherrn zu widersetzen und genau das war der eigentliche Grund.
Heyno hielt an dieser Tradition innerhalb seiner vier Wände fest und betete vor dem Hausaltar, das doppelflügelige Portal zur guten Stube zierten immer noch die 10 klugen und törichten Jungfrauen und über dem Haupttor seines Hauses prangte eine Kreuzigungsszene aus bunt glasierten italienischen Fliesen.
Heyno musste unwillkürlich grinsen. Er hoffte, dass das prächtige Emmerich immer noch vorwiegend katholisch war...